In Weimar gibt es ein Fachgeschäft für vergessene Privatfotografien. Zu behaupten, alles dort ist mit Liebe zum Detail gestaltet, wäre eine maßlose Untertreibung. Gerahmte Bilder drehen sich auf Plattenspielern, an allen Orten Blumen, bunt eingeschlagene Fotoalben in Regalen, Frischkäseschnittchen mit Radieschenscheibchen auf Tischchen, Tee im Samowar, Kinoklappstühle in Reihe, Schuhkartons voll mit ungehobenen Fotoschätzen, sepiafarbene Porträtaufnahmen, gigantische Lupen, mit denen sich die Bilder genauer betrachten lassen – die Fotothek ist weit mehr als ein simples Fotoarchiv.
Hier ist der ideale Ort für die erste Lesung zu »Das Gegenteil von Henry Sy«. Das passt, auch weil die Fotos aus der Fotothek das Leben Henry Sys seit über einem Monat bebildern. Ein Beamer wirft überlebensgroß Facebook an die Wand. Davor sitze ich, mit ungefähr zwanzig Gerätschaften beschäftigt. Ansonsten ist es bei Lesungen ja so: ein fertiger Text, in einer Stunde gelesen, dazwischen anekdotische Einwürfe, ab und an am Wasserglas nippen, zum Ende hin ein, zwei Fragen. Diesmal wird das anders werden. Der Text ist noch nicht fertig, ich werde mehr über das Schreiben reden, als dass ich das Geschriebene vorlese und zwei Fragen werden zu etwa zwanzig.
Zudem ist ständig Aktion. Auf dem Laptop scrolle ich die Zeitleiste von Henry Sys Profil von der Geburt bis heute entlang. Ich setze youtube-Videos in Bewegung, die dann hinter mir auf die Wand projiziert werden. Ich greife in verschiedene Papierstapel, in der Hoffnung, das jeweils korrekt Vorleseblatt zu erwischen. Ich zeige die Jahreszahlen der jeweils vorgelesenen Episode an, indem ich bedruckte A4-Seiten umschlage. Dazu muss ich mich bewegen. Überhaupt bewege ich mich verhältnismäßig viel. Ein spezielles Gerät wirft die realen Fotografien als Abbildung an die Wand, direkt auf die digitale Oberfläche. Es ist also eine Menge los, was prinzipiell nicht schlecht sein kann, auch wenn sich damit die Frage aufdrängt: Wie viel Ablenkung tut einem Text gut? Sollte es nur das Wort sein, was die Anwesenden fesselt oder helfen Bilder, Filme, Musik dabei, den Text anders, intensiver wahrzunehmen?
Diese Frage wird nicht abschließend geklärt. Dafür spreche ich über mich in der dritten Person, als ich einen Zeitungsartikel über das Projekt vorlese. Seltsames, falsches Gefühl. Aber es geht ja darum, inter-multi-trans-medial-tasking zu sein und dabei möglichst zahlreiche Ebenen aufzumachen. Was eben auch bedeutet, über sich selbst zu sprechen und was man denkt und dachte und für Vorstellungen hatte. So lese ich abwechselnd Episoden und erzähle dazwischen, wie es dazu kam, spreche von der Ewigkeitsglühbirne, Projektanträgen, Thomas Pynchon, von editierbaren Meilensteinen, vom trivialliterarischen Genres, davon, wie Erinnerung festgehalten werden kann, Strukturen, Verstößen, der Raumfahrt. Manchmal fließen die Worte heraus, manchmal suche ich danach, wie das eben so ist, wenn Worte nicht aufgeschrieben sind.
Insgesamt dauert das schon relativ lang. Eine Stunde und etliche Minuten vergehen rasch und jetzt hätte ich Lust darauf, in eines dieser Frischkäseschnittchen mit Radieschenscheibchen zu beißen. Aber auch Interesse an Gesprächen. Und tatsächlich kommt es zu Meinungsäußerungen. Jemand fragt, worin der Kern der Geschichte, von Henry als Figur läge. Jemand sagt, dass er im gleichen Jahr wie Henry geboren ist und gerade die Episode mit den Beatles nachvollziehen kann. Jemand schlägt vor, Henrys Aktivität über die eigene Seite hin auszuweiten und auf anderen Profilen zu kommentieren. Jemand will etwas über die Verbindung von Film und Text wissen. Über Zeitsprünge. Charaktere. Sprache. Warum Facebook. Was danach geschehen wird.
Die Frischkäseschnittchen bleiben vorerst, wo sie sind und gelangen damit nicht in meinen Magen. Dafür füllt sich mein Kopf mit Gedanken, von denen einige hoffentlich und nicht unwahrscheinlich in die nächsten Aktionen fließen werden. Das ist doch was, denke ich, und auf jeden Fall mehr möglich. Irgendwann schaltet sich der Beamer ab und das grüne Internetlämpchen blinkt nicht mehr. Der Rest dieses Abends verläuft dann angenehm analog.