Es hat eine Zeit gegeben, in der ich dachte, ich würde unendlich viel über Henrys Leben schreiben können. Und »unendlich« ist kein beliebiger Begriff, sondern wortwörtlich gemeint.
Knapp achtzig Episoden sind entstanden, die siebenundsechzig Jahre beschreiben. Etwas mehr als eine Episode für ein Jahr. Eigentlich wenig. Denn wie unvollständig wäre es, ein eigenes Lebensjahr in drei Seiten zu pressen? Was alles würde dann fehlen?
Und so bestand einmal der Gedanke – oder besser das Gedankenspiel – nicht nur für jedes Jahr einen Eintrag zu verfassen, sondern für jeden Monat. Und warum dort innehalten? Warum nicht für jede Woche etwas typisches finden, jeden Tag, jede Stunde? Warum nicht den Ulysses eines Lebens schreiben?
Die Oberfläche von Facebook zeigt, was das bedeuten könnte. Beliebig reinzoomen können in ein Leben, von Geburts- und Sterbedatum hin zu einem Tag, einer Minute. Und selbst diese eine Minute könnte mehr Informationen enthalten als alle Bibliotheken der Welt imstande wären aufzubewahren. All die Gedanken, die Beobachtungen, die Gefühle, die Erinnerungen, all das, was außerhalb einer Figur geschieht, alle Figuren haben das Recht auf Vollständigkeit und dann dazu noch die Welt, die währenddessen passiert.
Letztlich nun neunundsiebzig Episoden und das Gefühl, jedes weitere Worte wäre eines zu viel. Neunundsiebzig Episoden, zwei Drittel öffentlich geschrieben und öffentlich gemacht, ein weiterer großer Teil geschrieben nach mehrmonatiger Pause im Sommer, weitere Episoden kurz nach Abgabe des ersten Manuskriptentwurfs und schließlich drei letzte Episoden im Dezember.
Gemein ist diesem Schreiben, dass es zusammenhängend geschah. Immer mal wieder einen Splitter zu notieren ist nicht möglich. Es braucht den genauen Überblick über das bisher Geschehene, das in-der-Geschichte-sein, um herauszufinden, welcher Ton, welche Charakterisierung, welcher Weg noch fehlen könnte, um ein Gefühl von Vollständigkeit zu vermitteln. Wobei ja die grundlegende Erkenntnis ist, dass es so etwas wie Vollständigkeit bei der Beschreibung eines Lebens niemals geben kann.
Wie oft ich mittlerweile die letztlich 224 Seiten gelesen habe – laut und leise, auf Fehler hin und auf die Geschichte, den Rhythmus der Worte oder der inhaltlichen Übereinstimmung – lässt sich nicht mehr sagen. Was gut so ist. Schließlich muss der Text verschiedenen Ansprüchen genügen. Dem enorm wichtigen Stadium, in dem vage Gedanken und Vorstellungen überhaupt erst einmal zu Worten werden, schließen sich eben verschiedene andere, notwendige, oftmals zermürbende, monotone, belebende, ernüchternde Stadien an.
Wichtig ist zu überprüfen, ob der Text mit einem Zungenschlag spricht, ohne dass dabei bestimmte Wendungen allzu oft wiederholt werden. Wichtig ist die Reihenfolge der Episoden, weshalb ich bis zuletzt daran geschoben und gedreht habe, geben die Episoden doch Informationen zu einem Zeitpunkt wieder und beeinflussen so die Wahrnehmung der Geschichte und ihrer Figuren. Wichtig ist das Verteilen der Fotos, einerseits strategisch, so, dass nicht anfangs nicht alle fünf Seiten ein Foto erscheint und dann hundert Seiten keins, andererseits müssen Foto und Text natürlich auch Zusammenhänge erkennen lassen oder – besser noch – Interpretationsmöglichkeiten schaffen.
Und wichtig ist eben die Entscheidung, was von dem bereits Geschriebenen gestrichen und was noch Teil des Ganzen werden soll. Gerade bei den zuletzt geschriebenen Splittern stand ich mehrmals kurz davor, sie aus dem Buch zu nehmen. Die Zweifel währten bis zur letzten Sekunde und darüber hinaus. Selbstverständlich werde ich nicht schreiben, um welche Texte es sich dabei handelt. Vielleicht lassen sich diese im fertigen Buch erahnen, weil sie doch einen etwas anderen Ton anschlagen, einen Ton, der wichtig ist und gleichzeitig doch offensichtlicher als andere Episoden auf Sachverhalte hinweist und so vielleicht vorgibt, wie der Leser empfinden soll, etwas, dem ich eigentlich ablehnend gegenüberstehe.
Grundsätzlich ist es natürlich bei allen Kontrollversuchen so: Die Kontrolle habe ich, hat der Autor doch ohnehin längst verloren, spätestens, wenn der Text zum ersten Mal gelesen wird. Und das ist mittlerweile auch schon über fünfhundert Tage her.
Jetzt aber, wenige Wochen (oder Tage?) vor dem Erscheinen des Buches, herrscht neben Zufriedenheit, neben Erschöpfung, neben Optimismus, neben Pessimismus vor allem eine leicht nervöse Anspannung. Wie wird das Buch aussehen, jedes Wort gedruckt, dazu die Fotos? Ergibt sich ein Ganzes? Wie ist der Unterschied zum digitalen Lesen? Werden die zahlreichen Leerstellen erkannt und wenn ja, wie füllt sie der Leser? Ist der Leser überhaupt bereit, sich auf eine Reise mit Henry einzulassen, einzulassen auf die Form, auf neunundsiebzig Episoden und dem ständigen Springen zwischen den Zeiten? In welche Beziehung setzt er die Fotos zum Text? Was wird der Leser vermissen? Was wird er dem Text vorwerfen? Worauf wird sein Blick fallen, im Guten wie im Schlechten?
Jede Menge Fragen also, die ich abzuschätzen versuche, auch versuche, präventiv schon mal Antworten zu finden. Warum verwendest du die gleiche Form wie auf Facebook? Warum hast du nicht einen fortlaufenden Roman geschrieben? Trifft die Bezeichnung „Roman“ überhaupt zu? Was willst du uns mit dem Ende sagen? Willst du uns echt das mit dem Ende sagen? Was ist überhaupt das Ende? Warum ist der Text so kompliziert mit den vielen Sprüngen und Andeutungen? Warum ist der Text so monothematisch? Warum machst du so viele Erzählstränge auf? Warum bleibst du nicht konsequent realistisch? Was ist denn eigentlich ausgedacht und was nicht? Und, die wichtigste Frage von allen: Was ist denn nun das Gegenteil von Henry Sy?