Buchmesse, Leipzig, 13./14./15. März 2013
Die Buchmesse beginnt mit dem Geräusch einer mit Sanddornsaft gefüllten Braunglasflasche, die auf Steinkacheln zerspringt. Das Geräusch kommt unerwartet und heftig. Sanddornsaft läuft über die Kacheln, rinnt in die Fugen, schwemmt kleine, fiese Glassplitter mit sich. Griffe ich jetzt in die Sanddornpfütze, griffe ich in einen Splitter, der sich in meine Haut bohren und dann durch meinen Körper wandern würde, bis er eines Tages mein Herz erreicht hätte. Splitter im Herzen gilt es zu vermeiden. Dennoch rieche ich jetzt nach Sanddorn, dennoch wird mir in den kommenden Tagen jedes Mal der hiddenseeige Geruch von Sanddorn in die Nase steigen, jedes Mal, wenn sich etwas von Bedeutung ereignet.
Von Bedeutung kann alles sein. Das Geräusch, mit dem sich Straßenbahntüren schließen. Das Geräusch, mit dem ein Fahrkartenkontrolleur nach meiner Fahrkarte fragt und das Geräusch, mit dem ich entgegen meiner Absicht, auf eine Kurzstreckenfahrkarte zu verzichten, doch eine Fahrkarte aus dem Automaten zog, Geldstücke in Schlitzen, das Rattern im Inneren der Maschine, das Geräusch, mit dem die Karte in die Entnahmschale fällt.
Da sind die Geräusche in der Moritzbastei. Das Geräusch eines kratzenden Kugelschreibers, der meinen Namen auf der Autorenliste durchstreicht, das Geräusch, mit dem ich den Mantel dem Garderobenmann überlasse, das Geräusch, wenn Hände sich schütteln und Körper sich umarmen, das Geräusch von »Wie geht es dir?« und »Das ist ein Frühling, was«, das Geräusch, mit dem an der Theke der Bon gegen ein Getränk eingetauscht wird.
Da sind die Geräusche der Lesenden, die flüstern, schreien, flirrten, monologisieren, monotonieren, husten, bitten, argumentieren, plaudernd scherzen, vortragen, deklamieren, Stimmen verstellen, das Geräusch, mit dem die Zuhörenden ihre Anteilnahme am Gehörten ausdrücken, das unruhige auf-dem-Stuhl-rutschen, das nervöse Fußscharren, das gelangweilte Wischen auf dem Smartphone, der verbale Austausch mit dem Nachbarn, das Nippen am Bier, das Kratzen am Kopf, das Schließen der Augen und das Klatschen, natürlich das Klatschen und dessen Ausbleiben.
Da ist das Geräusch der Uhr, die sich kurz vor ein Uhr nach fast sieben Stunden Lesungen ebenso müde wie abgekämpft einer Leipziger Nacht entgegenschleppt, das Geräusch von Stühlen, gerückt im Schwalbennest, das Geräusch, wie – nur von einer Glasscheibe getrennt – draußen im von Schirmen überdachten Innenhof an Zigaretten gezogen wird, während drinnen in Mikrofone gesprochen wird. Da ist das Geräusch, wie jemand die Bühne betritt und sein Buch noch nicht hat, dafür aber ausgedruckte Blätter, die kaum rascheln, weil die Tinte noch feucht ist vom vielen Schweiß, der in all den Wörtern steckt.
Das Geräusch, wie Kreide auf dem falschen Schiefer einer Tafel schabt, wie winzige weiße Kreidepartikel sich zu Zahlen formen, die Jahre angeben und damit zeigen, wann wir uns befinden, vorausgesetzt, wir sind bereit, in die Welt von Henry Sy einzutauchen. Da ist ein Leben, erfunden, aber nur selten ausgedacht und wie es in fünfzehn Minuten erzählt werden kann. Da ist das Geräusch des Endes, wie matte Menschen aus dem Ameisenbau nahe des Gewandhauses strömen, wie ein Nachtbus sich vom Hauptbahnhof stiehlt und wie kleine Gruppen erlebnisorientierter Jugendlicher erwartungsvoll Richtung Zentrum eilen.
Am nächsten Morgen die üblichen hygienischen Morgengeräusche, die Anzieh- und Essgeräusche, die Geräusche eines Leipzigs, dem es zu neunzig oder wahrscheinlich mehr Prozent egal sein wird, dass Bücher innerhalb der Stadt gerade für zehn Prozent oder wahrscheinlich weniger Prozent der Anwesenden eine große Rolle spielt, was auch gut so ist, weil die Geräusche der Messeblase wunderbar harmonieren mit dem Geräusch all der Presslufthammer der Gleisarbeiter, all dem geschäftigen Knistern der Blumenverkäufer, dem Kreisen der Rettungshubschrauber.
Das Geräusch der Buchmesse verliert sich in der Kuppel, die hoch über den Köpfen der Besucher hängt und vollkommen blau vom Frühlingshimmel gepinselt ist, all das Buhlen um Aufmerksamkeit, das Interesse von Fachleuten, die fragen »Wo ist das Buch erschienen?«, »Welchen Einband hat es?«, »Über wen wird es ausgeliefert?« und nicht fragen »Wovon handelt deine Geschichte eigentlich?«
Ja, wovon handelt meine Geschichte eigentlich? Sicher nicht von Thilo Sarrazin in der Mangahalle der Buchmesse, inmitten all der anderen Predatoren und Zwerge. Da ist das Geräusch der Trillerpfeifen der beflissenen Dissidenten, die genau dann in ihre Trillerpfeifen blasen, wenn Sarrazin gefragt wird, weshalb er glaubt, trotz Bestsellersonnenplatz und Talkshowteilnahmen seine Meinung nicht frei äußern zu können. Dann trillern die Dissidenten, was schlechtes Timing ist, denn Sarrazin muss niemand in ein schlechtes Licht rücken, wenn er sich mit seinen Äußerungen schon ins rechte rückt.
Da ist das wunderbare Geräusch, mit dem Katja Petrowskaja von der Erinnerung erzählt, das Geräusch von Denis-Scheck-Tragetaschen, in denen Prospekte und manchmal auch geklaute Bücher verstaut werden, das Geräusch, wie ein zehn Meter hoher Stapel Frank-Schätzing-Bücher Sebastian Fitzek unter sich begräbt, das Geräusch, mit dem Männer mit Augenbrauen wie Schorf die Gegenwart verfluchen und Maxim Biller dazu zufrieden grinst, das Geräusch, wie Sibylle Lewitscharoff das Sandmännchen umarmt und sich in dessen Bart verfängt, die überraschten Geräusche von hungrigen Messebesuchern, die Magnumeis versehentlich für Hot Dogs halten.
All die Geräusche verschwimmen ineinander und am Ende sitzt da jemand und macht daraus Zahlen, soundsoviele Besucher, soundsoviel Umsatzplus, soundsoviele eBooks, soundsoviele Seiten beschriebenes Papier, soundsoviele hoffnungsvolle Newcomer, soundsoviele sich renditierende Erwartungen.
Am Abend sind Zahlen kein Geräusch. Am Abend sind das die Geräusche im Westflügel des Lindenfels. An diesem Abend wiederholen sich einige Geräusche des vorherigen Abends; ein Husten ins Mikrofon, von Kreide auf falschem Schiefer, vom Sprechen über das erdachte Leben eines Menschen, dessen Lieben, dessen Scheitern. Ein Geräusch kommt hinzu, das Geräusch, wie vorsichtig Plastikverpackung von einem neuen Buch entfernt wird und dieses Buch wird mit Samthandschuhen angepackt, die Seiten werden achtsam umgeschlagen, unglaublich nun, gedruckt zu sehen, was bisher nur virtuell war. Und es stimmt natürlich nicht, ist aber doch so, dass das erste Lesen aus einem fertigen Buch eben das Größte sein kann.
Danach dann, die Geräusche nach dem Lesen, nach dem Tunnel, in dem man sich für eine Stunde oder mehr befand, das Beglückwünschen, das Nachfragen, das Planen des restlichen Abends, das Geräusch, wie alkoholgetränkte Limettenscheiben mit Eiswürfeln kollidieren, das Geräusch Tanzender, das beglückende Geräusch von »212« und seltsamerweise auch das Geräusch von Charles, Eddie und Paul Simon.
Und schließlich, das Geräusch von Singvögeln in der aufklarenden Dunkelheit, das Geräusch, wie jemand mitten in Leipzig ein Buch durch die Stadt trägt, ein Buch von so vielen in diesen Tagen und doch ist es etwas bedeutsames, hier und jetzt unter den Umständen, und es beginnt, ein klein wenig nur, nach Sanddorn zu duften.
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Was noch geschah:
(5) Nordhausen. Das Handy der Kanzlerin.
(3) Hamburg. In Substantiven, Verben, Wieworten und Personalpronomen.
(2) Bremen, Oldenburg. Pop-Ups blocken in Bremen.
(1) Fotothek Weimar. Transmediale Frischkäseschnittchen.